Herwig Reiter





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Zitate:

"Die Musik der Natur besteht hauptsächlich aus Geräuschen. In der menschlichen Musik aber können wir, was uns bewegt, in Tönen und Zeitproportionen ausdrücken, die im Sinne einer Sprache "verstanden" werden. Denn unser Gehirn enthält wunderbarerweise, ohne dass dies für das Überleben der Spezies Mensch je von Bedeutung gewesen wäre, angeborene Ordnungsmuster für Intervalle und Rhythmen, die sich in den verschiedenen Musikkulturen in unterschiedlicher Weise ausgeprägt haben. Wegen dieser Besonderheit unseres Erkenntnisorgans glaube ich, dass die Weiterentwicklung des Musikdenkens nach wie vor auf dem Gebiet der Töne und Zeitproportionen und weniger auf dem der Klänge und Geräusche liegt."

"Ich empfinde es als blanke Heuchelei, wenn dieselben Leute, die bei Bach oder Schubert anscheinend tief ergriffen zuhören, zeitgenössische Stücke, bei denen irgendetwas an Bach oder Schubert erinnert, aus "stilistischen" Gründen (und akademischem Wohlverhalten) ablehnen."

"Der Begriff "Neue Musik" erinnert mich irgendwie an zwanghafte Ideen, wie etwa die des Kommunismus oder die des "Übermenschen". Eine `wirklich "neue" Musik und wirklich "neue Hörgewohnheiten" gibt es natürlich ebenso wenig wie einen "neuen" Menschen. Es gibt aber an der "alten" Spezies Mensch noch so unabsehbar viel zu entdecken, zu verbessern und in Musik auszudrücken, dass uns nicht bange zu sein braucht vor dem Ende der Musik. Ich meine, dass wir im Gegenteil eher am Anfang stehen und uns eben erst kompositorische Möglichkeiten und Freiheiten wie nie zuvor erobert haben. Die besondere Aufgabe unserer Zeit sehe ich darin, diese Möglichkeiten und Freiheiten auf vielerlei Arten zu nutzen, um im Sinne der Demokratie möglichst viele Menschen für möglichst viel gute, d.h. spannende, ausdrucksvolle, lebendige und humane Musik zu gewinnen.


Herwig Reiter mit seiner Frau Elisabeth, 2002

Aus der Dankesrede zur Verleihung des Würdigungspreises der Republik Österreich für Musik 2003, gehalten am 1.6.2004 im Kongress-Saal des Bundeskanzleramts, Wien:

Mir wurde aufgetragen, nein, sagen wir, erlaubt, bei diesem heutigen festlichen Anlass auch etwas über meine Musik zu sagen. Und so habe ich einmal darüber nachgedacht, ob Musik "modern" sein muss bzw. wie "modern" sie sein muss und ob es mir ein großes Anliegen ist, dass meine Musik "modern" ist. Das wiederum hat mich auf das Problem geführt, was mir beim Komponieren wirklich ein großes Anliegen ist, also, warum ich so komponiere, wie ich komponiere. Ich habe das in 10 Punkten zusammengefasst, die ich Ihnen jetzt vorlesen möchte, nicht ohne zu betonen, dass dies alles sehr subjektiv ist und niemanden beleidigen soll, der anderer Meinung ist.

  1. Meine Musik soll dem Melodischen mehr Raum geben, als in der E-Musik derzeit üblich. Ich glaube nicht daran, dass schon alle Melodien geschrieben worden sind. Ich halte das für eine Ausrede.
  2. Meine Musik soll von einem Gegenüber ohne Analyse und Erklärung wie eine sprachliche Mitteilung verstanden werden können.
  3. Meine Musik soll zwar intelligent sein, (das möchte ja jeder Komponist) aber auch hinreichend an die Emotionen appellieren, weil beim Menschen von dort her die Antriebe zum Handeln kommen.
  4. Meine Musik soll nicht durch Klangsensationen beeindrucken, sondern die musikalische Vorstellung von Ausführenden und Hörern in nachhaltiger Weise erweitern, wobei mir scheint, dass der Gewinn, den die menschliche Vorstellungskraft aus ametrischen Rhythmen und verwirrenden Tonfolgen zieht, eher gering ist.
  5. Meine Musik soll auf Extrempositionen des Negativen verzichten und sich an meiner eigenen, subjektiven Wirklichkeit orientieren. Nichts ist für mich so interessant wie die vielen Facetten dieser "Normalität". Und nichts so uninteressant wie die ständige Beschäftigung mit Grausamkeit und Lüge. Komponiertes Chaos, Schockwirkungen durch übersteigerte Dynamik, Erstarren in Minimalaktionen usw. haben mich nie besonders angezogen. Ich denke, dass sie beim Hören eher abstumpfen als motivieren.
  6. Meine Musik soll (wenn ich's zusammenbringe) trösten, erfreuen, berühren, begeistern und zum Lachen oder Weinen bringen. Sie soll vor allem nicht verstören oder Energie rauben.
  7. Meine Musik soll friedlich sein, so weit ich selbst in der Lage bin, Frieden in mir herzustellen. Sie soll Geborgenheit ausstrahlen. (Ich bin ein Krebs.) Sie soll abbilden, wie Menschen miteinander sprechen, bzw. wie Menschen miteinander sprechen sollten.
  8. Meine Musik soll sich nicht an heutigen Stilen, Moden und Gruppenzwängen orientieren. Ich liebe den Dreiklang, auch wenn er heute eher vermieden wird. Ich liebe Form und Symmetrie. Ich liebe es, wenn ein guter musikalischer Gedanke wörtlich wiederholt wird, auch wenn Schönberg dagegen war. Und ich liebe es, wenn ein musikalischer Gedanke so lange ausgewalzt wird, wie Verstand und Empfindung brauchen, um ihm zu folgen. Kurz: Ich akzeptiere, dass ich aus meinem Wesen heraus scheinbar unzeitgemäß bin, was sich allein schon in den Titeln meiner letzten drei größeren Arbeiten zeigt: einem Chorbuch für Laien, einer Messe und einem Märchen.
  9. In meiner Musik sollen die einzelnen Stimmen und Schichten selbständig wie Personen agieren. Ich liebe eine Polyphonie, die die Gegensätze nebeneinander bestehen lässt. In meinem Cellokonzert gibt es eine Stelle, wo vier Charaktere bzw. auch Tempi gleichzeitig erklingen: Scherzando in den Holzbläsern, Lamentoso in den Blechbläsern, Pesante in Streichern und Pauken und dazu ein konzertierender Solist. Ich halte das nicht für verrückt, sondern für völlig normal: Eine solche Musik ist politisch betrachtet das Abbild einer Gesellschaft, die so frei ist, dass sie das subjektiv Andere jedes einzelnen Individuums erträgt und fördert. Eine Gesellschaft, wie sie nach meiner Überzeugung sein sollte.

Und endlich als zehnter Punkt etwas, was ich vielleicht wie ein Geheimnis hüten sollte: Meine Musik geht aus einigen wenigen melodischen und rhythmischen Grundmotiven hervor, und zwar nicht nur die einzelnen Stücke, sondern das Gesamtwerk. Ich habe beobachtet, dass mich diese wenigen Motive, von denen manche auch mein Vater verwendet hat, zutiefst ansprechen und bewegen. Sie ändern sich nicht und waren auch von meiner Kindheit an immer schon dieselben. Sie durchziehen alle meine Stücke, vermehren sich nur langsam und geben meinen Werken, ohne dass ich das beabsichtigen würde, quasi als Nebenerscheinung, konstruktiven Zusammenhalt.

Ich habe Ihnen jetzt 10 Punkte genannt, die ich als für mich charakteristisch empfinde. Jeder einzelne Punkt davon ist mir persönlich wichtiger, als bloß "modern" zu sein. Und ich könnte mir denken, dass die Zeit, in der man die Qualität einer künstlerischen Arbeit an ihrer Modernität bemessen hat, überhaupt abgelaufen ist. Das 20. Jahrhundert hat uns eine Fülle von fantastischen Musikwerken geschenkt, aber auch eine Fülle von Tabus aufgebaut. Ich warte mit Spannung darauf, wie die Zeit nach der "Moderne" komponieren wird und hoffe, dass sich das 21. Jahrhundert noch mehr Freiheit erobern, sie aber anders, nämlich menschen- und umweltfreundlicher nützen wird.

Wien, im Mai 2004

Vorwort des Komponisten zum Chorbuch

Die Idee zu diesem Chorbuch enstand aus dem Österreichischen Bundesjugendsingen 2001, für das ich die sechs Pflichtstücke komponierte. Erwin Ortner, der Leiter dieser Veranstaltung und des international hoch angesehenen Arnold Schönberg Chores, lud mich darauf hin ein, eine Sammlung von Stücken für Laienchor zu schreiben.

So entstand in den letzten Jahren dieses Chorbuch in zwei Bänden, das meines Wissens die erste derartige Unternehmung seit Zoltán Kodály und Hugo Distler ist. Kaum ein Komponist aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat in größerem Umfang für Laienchor komponiert. Die Kluft zwischen den stilistischen Anforderungen der "Neuen Musik" und den Möglichkeiten eines Laienchors war nur schwer zu überbrücken.

Seit den 80er-Jahren aber beginnt sich die zeitgenössische E-Musik zu ändern. Sie wird vielfältiger und publikumsfreundlicher. Die Grenzen zu U-Musik, Jazz und Ethno-Musik verwischen sich. Die Melodie gewinnt einen neuen Stellenwert. Berührungspunkte mit der Musik vergangener Zeiten treten hervor. Und innerhalb dieses neuen Stilgemisches, das vorderhand mit "Postmoderne", "Cross over" oder "Neue Einfachheit" nur unzureichend bezeichnet werden kann, hat die Chormusik wieder eine echte Chance. Sogar jene für Laienchor.

Denn wenn wir "Modernität" nicht mehr einseitig als Fortschrittlichkeit bezüglich Material und Struktur der Musik definieren, sondern als ein neues Lebensgefühl, das sich in allen Aspekten der Musik niederschlägt und von dem der Nachkriegszeit (aber auch von jenem der Vergnügungsindustrie) deutlich abhebt, dann ist es wieder möglich, "leichte" Musik für Chor zu schreiben, die trotzdem nicht rückwärtsgewandt ist.

Eine Musik dieser Art ist mir bei meinem Chorbuch vorgeschwebt. Als Texte habe ich bewusst keine assoziative avantgardistische Lyrik gewählt, sondern vor allem solche Gedichte des 20. Jahrhunderts, die ein spürbares Anliegen transportieren.

Ich widme dieses Chorbuch Erwin Ortner, der die österreichische Chorszene seit Jahrzehnten mit seinem Einsatz und seinen Ideen belebt, mit Dank für seine Anregung und Hilfe bei diesem Projekt.

Den Chören wünsche ich, dass sie in diesem Buch recht viele Stücke finden, die interessierten, anspruchsvollen Sängern schon beim Proben Freude bereiten, und dass die Schwierigkeiten, die manchmal bewältigt werden müssen, mehr Anreiz als Hindernis sind.

Wien, im Oktober 2005

Musikverlag Alexander Mayer - www.mvam.at

 

Herwig Reiter

ZUR RENAISSANCE DER TONALITÄT

Vorgeschichte

Der noch vor dem 1. Weltkrieg aufgebrochene, jahrzehntelang schwelende Meinungskonflikt zwischen Vertretern der tonalen und der nicht-tonalen Musik teilt die Komponisten seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in zwei Lager. Jene, die (nach den Worten Schönbergs) daran festhalten, dass die "Töne zu den Dreiklängen und diese zur Tonalität ziehen, so wie uns die Schwerkraft zur Erde abwärts zieht," und jene, die "keinen physikalischen oder ästhetischen Grund" sehen, "sich zur Darstellung ihrer Gedanken der Tonalität zu bedienen", so wie "uns das Flugzeug trotzdem von der Erde weg in die Höhe führt." 1)

Spätestens seit den 70er Jahren war dann dieser Konflikt mehr oder weniger entschieden. Die damals jüngere Komponistengeneration, die sich in den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik traf, wollte sich nicht nur scharf vom Faschismus, der die nicht-tonale Musik als "entartet" klassifiziert hatte, abgrenzen, sondern sich darüber hinaus, wie besonders an den Vorgängen im Revolutionsjahr 1968 zu erkennen, auf allen Gebieten von überholten Traditionen befreien und etwas "Neues" versuchen. Und da musste auf dem Gebiet der Musik nicht nur die Tonalität, die an sich eigentlich nichts mit Faschismus oder sexuellen Zwängen zu tun hat, aber schon seit Liszt und Wagner tüchtig ins Wanken gekommen war, dran glauben, sondern der gesamte Habitus traditioneller europäischer Kunstmusik. Die Tonalität hat aber bei einzelnen Komponisten überlebt und meine folgenden Überlegungen münden in die Frage, ob es angesichts der heutigen ziemlich verfahrenen Situation der Kunstmusik nicht sinnvoll wäre, sie in erneuerter Form wieder aus ihrer Ecke des Verzopften und Altmodischen hervorzuholen.

Definitionsfragen

In Hinblick auf die Entwicklung der europäischen Musik im 19. und 20. Jahrhundert, aber auch global gesehen, kann man Tonalität längst nicht mehr ausschließlich von Grundtonbezug und Obertonreihe ableiten, einer Sonne gleich, um die die übrigen Töne der Tonleiter wie Planeten auf vorgezeichneten Bahnen kreisen. Die temperierte Stimmung (ein getreues Abbild unserer Welt, in der das Ideal nie ganz erreicht werden kann, weil eben 12 Quinten nicht genau 7 Oktaven ergeben), die das Tonalitätsprinzip unterhöhlenden Modulationen und alterierten Akkorde der Spätromantik, das Schwelgen des Neoklassizismus in Bitonalität, Parallelverschiebungen und lustvoll gebrauchten Dissonanzen und (von der anderen Seite kommend) die spürbare Tonalität selbst bei dodekaphonen Werken (A.Berg, F.Martin: Petite Symphonie concertante) haben zu einem neuen Tonalitätsbegriff geführt. Dieser erweitert sich noch beträchtlich durch die Tatsache, dass seit Debussy, wie in vielen Musikkulturen außerhalb Europas, auch Tonreihen den tonalen Zusammenhang stiften können. Tonreihen, deren Grundton sich oft gar nicht feststellen lässt, wie z.B. bei der Pentatonik, bei der Ganztonleiter und den oktotonischen Reihen Messiaens, bei denen auf jeden Ganzton- ein Halbtonschritt folgt.

Ob wir zeitgenössische Werke als tonal oder als nicht-tonal einstufen, hängt daher nicht nur davon ab, ob sie auf eine Tonika bezogen sind, die berührt, umspielt, verlassen und wieder erreicht werden kann, oder ob sie den Gesetzen der Obertonreihe (bei Hindemith zusätzlich auch jenen der Kombinationstöne!) 2) entsprechen und daher im Wesentlichen einen konsonanten Eindruck hinterlassen. Wir bezeichnen auch Musik mit ziemlich dissonantem Charakter noch als "erweitert" tonal, wenn sich die Töne wenigstens phasenweise auf einen Grundton beziehen lassen und der Dreiklang nicht völlig ausgeklammert wird. Dadurch rücken die Positionen von tonaler und nicht-tonaler Musik etwas näher aneinander. Bezüglich Verstehen und Gefallen gibt es aber doch einige markante Unterschiede:

Verstehen

Motivische Kompositionsweise und das damit zusammenhängende "Verstehen" von Musik werden noch 1926 von Schönberg sehr überzeugend für die Zwölftonmusik reklamiert:

"Die Tonalität wird mit Recht aus den Gesetzen des Tons abgeleitet. Die Musik aber folgt außer diesen und den Gesetzen, die sich aus der Kombination von Zeit und Ton ergeben, auch noch den Gesetzen unseres Denkens. Dieses nötigt uns, die zusammenhangbildenden Elemente auf solche Weise anzuordnen und so oft und so plastisch hervortreten zu lassen, dass die kurze Zeit, die uns der Ablauf der Ereignisse lässt, genügt, um die Gestalten zu erkennen und ihren Sinn zu begreifen." 1)

In der Praxis sind Schönberg, seine Mitstreiter und vor allem seine Nachfolger aber oft weit über die Grenzen des Verstehens gegangen. Bei den meisten dodekaphonen Werken werden sämtliche Redundanz ermöglichenden Bildungen wie zum Beispiel die von Schönberg oben genannten "plastischen" Motive, aber auch wörtliche Wiederholungen, Sequenzen, Ostinati u.a. eher unterdrückt als gefördert. Und in der seriellen und nachseriellen Musik wird die motivische Arbeit vollends zugunsten von Zahlen- und Klangstrukturen aufgegeben, die beim Hören kaum zu entschlüsseln sind, wobei hier auch der gleichbleibende Puls (als rhythmisches Analogon zur Tonika) durch aufgesplitterte Rhythmen, das Übereinander von N-tuolen oder die Einbeziehung ametrischer Passagen möglichst außer Kraft gesetzt wird.

Das war von Schönberg (siehe oben) nicht so geplant. Seine Abneigung gegen das "Populäre", "Gemeinverständliche", 1) haben ihn, seinen Kreis und die meisten seiner Nachfahren aber dazu gebracht, "plumpe" Fasslichkeit tunlichst zu vermeiden und den Elfenbeinturm vorzuziehen.

Nun ist das Verstehen von auf dem Papier logischen, aber für das Ohr komplexen Strukturen oft auch ein Problem mangelnder musikalischer Bildung. Aber nicht nur! Nach vielen Jahrzehnten Hörerfahrung steht auch heute noch die Mehrzahl der "gebildeten" Hörer recht hilflos vor dodekaphoner, serieller und nach-serieller Musik, gibt es schließlich auf, in den verwirrenden Klängen nach "Sinn" zu suchen - und langweilt sich. Der Zuhörer spürt zwar eine Logik, die für seine Ohren schon allein durch die Vermeidung des Gewohnten entsteht, kann aber die Musik trotzdem nur selten innerlich nachvollziehen.

Im Gegensatz dazu ist vielen tonalen Kompositionen der Moderne gemeinsam, dass sie ein Netz von einprägsamen, sich wiederholenden Elementen ausbreiten, das zumindest bei mehrfachem Hören in die Lage versetzt, die Musik wiederzuerkennen, mitzuvollziehen, dabei bewusst oder unbewusst Erwartungen an ihren Fortgang anzustellen, kurzum die Musik trotz ihrer modernen Tonsprache ähnlich wie klassische Werke zu "verstehen".

Gefallen

Noch wichtiger als das Verstehen ist beim Erlebnis von Musik das Gefallen, die emotionale Identifikation. Da von den meisten Personen, denen Neue Musik nicht gefällt, die dissonante Struktur als Hauptgrund ihrer Abneigung angegeben wird 3), müssen wir einen Blick in diese Richtung werfen, auf die sogenannte Emanzipation der Dissonanz.

Physikalisch und neurologisch gesehen ist der Begriff der Dissonanz gut abgesichert. Man kann die Tatsache, dass Intervalle mehr oder weniger konsonant sein können, nicht gänzlich leugnen, denn es gibt dafür handfeste Beweise: die Obertonreihe, die Funktionsweise unseres Gehörorgans (bei Dissonanzen überlagern sich die "kritischen Bänder" der Cochlea) und das Phänomen der Schwebung. 4)

Im musikalischen Kontext allerdings lässt sich die Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz nicht so leicht bestimmen. In der europäischen Musikgeschichte sind immer mehr dissonante Intervalle zu Konsonanzen geworden. Sogar noch im 20. Jahrhundert: z.B. weist Hindemith in der Theorie2 der großen Sekund einen Platz bei den eher dissonanten Intervallen zu, in seinen Kompositionen hat sie aber oft nahezu den Status einer Konsonanz. Und wieviel Rauigkeit einem ohnedies an die Schwebungen des temperierten Tonsystems oder den scharfen ("dissonanten") Klang der Violine in hoher Lage gewöhnten abendländischen Musikhörer zumutbar ist, kann objektiv ebenso wenig entschieden werden wie die Frage, ob die Dissonanzenfülle im Kontext nicht-tonaler Musik stört, oder ob sich die Hörgewohnheiten schon daran angepasst haben. 4)

Von tonaler Seite her ist aus drei Gründen zu bezweifeln, dass die Emanzipation der Dissonanz tatsächlich zu mehr Freiheit führt. Denn:

Die Gleichstellung nimmt den einzelnen Intervallen ihren Charakter. Das Problem erinnert mich an die Verdrängung und Ausrottung der in ihrer Eigenart bezaubernden alten Weltmusikkulturen durch die internationale Popmusik.

Der häufige Gebrauch dissonanter Zusammenklänge "komprimiert" den Spannungsverlauf der Musik. Dadurch dass bei Neuer Musik fast durchgängig Akkorde verwendet werden, die in irgendeiner Form kleine Sekunden enthalten, spielt sich ein Großteil dieser Musik im Bereich spannungsgeladener und, was noch mehr zählt, fast spannungsgleicher Intervallkombinationen ab. Für das subjektive Empfinden geht dabei viel an Farbigkeit verloren - ganz im Gegensatz zu den Absichten Schönbergs, der von Klangfarbenmelodien träumte 1)- und bleibt eine Welt in Grautönen übrig, die für den ungeübten Hörer noch dazu "böse" klingt. So gesehen beraubt die Emanzipation der Dissonanz die Komponisten eines ihrer wichtigsten Gestaltungs- und Ausdrucksmittel: des harmonischen Kontrasts.

Die neuartigen Tonverbindungen mit den "emanzipierten" großen Intervallen stellen einerseits die Sänger vor reizvolle Aufgaben. Andererseits wirkt sich diese Kompositionsweise, gepaart mit der forcierten Verwendung extremer Lagen und der Einbeziehung von Stimmgeräuschen verheerend aus: Viele der besten SängerInnen und so gut wie alle Weltstars fürchten sich vor dieser Art von Gesangsmusik wie der Teufel vor dem Weihwasser, und man kann ihnen das wegen der damit verbundenen gesundheitlichen Strapazen für das Stimmorgan nicht einmal verübeln.

Publikum

Mangels Gefallen an einer Musik, die zwar nicht dissonant gemeint ist, aber von den meisten Hörern so empfunden wird, hat sich das große Publikum weltweit von der nicht-tonalen Musik zurückgezogen und ist schon lange zur tonalen, besser verständlichen und entspannteren historischen Musik abgewandert, wobei die tonalen Komponisten des 20. Jahrhunderts bis einschließlich Britten von vielen Musikliebhabern toleriert werden oder in Einzelfällen sogar ähnliche Verehrung wie die klassischen Heroen der Tonkunst genießen.

Auf dem Sektor der Neuen Musik, die noch vor gar nicht so langer Zeit nur einen kleinen, aber feinen Personenkreis von Musikinteressierten angesprochen hat, ist es mittlerweile zu einem starken Publikumszuwachs gekommen, vor allem wenn hochklassige Ensembles auftreten wie bei "Wien modern".

Tonale und nicht-tonale moderne Musik sprechen vermutlich nicht denselben aber einen zahlenmäßig vergleichbaren Personenkreis an. Sie haben aber beide im Vergleich zu Konzerten mit Alter Musik oder klassischer Musik unter der Leitung von berühmten Dirigenten oder mit Opern, in denen große Stars zu hören sind, und natürlich zu Pop-Events nur geringe ökonomische und touristische Bedeutung. Sehr wahrscheinlich würde daran auch eine der Moderne mehr Raum gebende Programmierung der großen Musikveranstalter nicht viel ändern. Denn das Hindernis liegt bei der heute komponierten Musik selbst.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass es in der modernen Literatur, Malerei und Architektur ähnliche Akzeptanzprobleme wie bei moderner Musik gegeben hat, mittlerweile aber in diesen Künsten mit viel breiterem Interesse des Publikums als bei moderner Musik gerechnet werden darf. 3)

Neue Musik und Fortschritt

Von Seite der Kreativen war schon am Beginn der 80er Jahre Überdruss an der damaligen Musikentwicklung zu spüren. Der erste, der in Wien den Standpunkt der Avantgarde hinterfragte, war und ist gleichzeitig einer ihrer wichtigsten Vertreter: Friedrich Cerha, derzeit wohl der international bekannteste österreichische Komponist. Er lässt in seinem 1980 entstandenen Aufsatz mit dem Titel "Ist die Moderne erschöpft?" 5) zwar serielle Verfahren noch als "Mittel zum Hervorbringen komplexer, feiner Gewebe" gelten, schildert auch die "Freude an ungewohnten, durch Massenstrukturen hervorgebrachten Klangbildern", wie er sie selbst in seinen berühmten, auf Clustern aufgebauten "Spiegeln" verwendet hat, schreibt aber dann kritisch weiter:

"Seither sind 20 Jahre vergangen. Während epigonale Produkte aus den beschriebenen Richtungen noch immer unter der Etikette "Avantgarde" durch die Konzertsäle geistern, beschäftigt schöpferische Naturen längst anderes..... Auf puristische Konzentration folgt häufig ein Streben nach größerem Reichtum. Ihn anderswo als in den von der jüngeren Entwicklung vernachlässigten Gebieten wie Harmonik, Melodik und Rhythmik zu suchen, ist kaum möglich. Das führt aber unweigerlich zur Berührung mit der Tradition."

Seit dieser Diagnose aus dem Jahr 1980 sind nun wieder 30 Jahre vergangen. Die "vernachlässigten Gebiete Harmonik, Melodik und Rhythmik" sind in Österreich weiterhin vernachlässigt geblieben. Die nicht-tonale Neue Musik, allmählich schon etwas in die Jahre gekommen, schon lange nicht mehr ausgebuht, von der Presse freundlich behandelt, mit Subventionen verwöhnt, nach jahrzehntelanger Ausgrenzung nun auch wichtige Schaltstellen musikalischer Macht in Händen haltend, pocht weiterhin darauf, im Besitz der Zauberformel des musikalischen "Fortschritts" zu sein. Ein Fortschritt, der es verdient, etwas genauer betrachtet zu werden.

Es fällt nämlich auf, dass die Fortschrittlichkeit eines Musikwerks heute vorwiegend an dem bei einer Komposition verwendeten musikalischen Material und nicht, wie bei anderen Künsten oder Epochen, an ihrem Weltbild abgelesen wird. Als fortschrittlich wird in der Regel jene Musik betrachtet, die die vorangegangenen Stilrichtungen und Komponisten an Komplexität überbietet. Der Fortschritt führt also nicht etwa zu mehr Menschlichkeit, sondern eben vom kleinstufigen Choral zum großintervalligen Zwölftongesang, vom Quintorganum zum Cluster, von der Knochenflöte zu digitalen Sounds und vom Schwer/Leicht der gesungenen Sprache bis zu aberwitzigen rhythmischen Konstrukten.

Die Sache hat aber einen Haken: die Forderung nach stetiger Innovation, schon von Richard Wagner erhoben, ist bereits an ihre Grenzen gestoßen, ähnlich wie manche sportlichen Rekorde kaum mehr über- oder unterboten werden können. Abgesehen von künftigen Möglichkeiten durch Elektroakustik und Digitalisierung war bezüglich des zur Verfügung stehenden musikalischen Materials schon alles da. Für den heutigen Komponisten erhebt sich daher die Frage, ob man überhaupt noch melodische Figuren, Spielweisen, Akkorde oder Rhythmen finden kann, die andere nicht schon vorher benutzt haben. Ob nicht alles, was wir schreiben, sogar wenn es sich stilistisch um Neue Musik handelt (!), zwangsläufig Zitatcharakter hat. Ob das Suchen nach neuem musikalischen Material überhaupt noch sinnvoll ist oder nur mit sich bringt, dass wir den Stil der 70er Jahre perpetuieren.

In einer melancholischen Anwandlung hat einer meiner lieben Komponistenfreunde dieses Szenario per Mail an mich so gezeichnet: "Hab' immer das Gefühl gehabt, dass das Schiff der Musikgeschichte langsam auf dem Meer entschwindet. Man sieht noch die glücklichen Letzteingestiegenen (Messiaen, Schostakowitsch), erleichtert plaudernd mit anderen (Monteverdi bis Ravel), und ich stehe auf dem Hafenmolo und winke ihnen mit ein paar Notenblättern Abschied zu."

Zwänge

Die Situation heute ist eine gänzlich andere als in der Aufbruchsstimmung von 1968. Die erwartete "Befreiung" durch die Aufgabe der Tonalität ist ausgeblieben. Im Gegenteil, eine Fülle von Zwängen hat sich daraus ergeben, dass man Anklänge an tonale Musik vermeiden will. Drei davon seien stellvertretend genannt:

a) Als besonders schlimm gilt es, nachsingbare Melodien in die Welt zu setzen, was auf Schönberg zurückgeht, der 1910 folgendes Statement abgab:

"Melodie ist die primitivste Ausdrucksform der Musik. Ihr Zweck ist: einen musikalischen Gedanken durch viele Wiederholungen (motivische Arbeit) und möglichst langsame Entwicklung (Variation) so darzustellen, dass selbst der Begriffstützigste folgen kann. Sie behandelt den Zuhörer wie der Erwachsene das Kind oder der Verständige den Idioten." 1)

b) In Darmstadt wurde angeblich ein sehr bekannter Komponist ausgepfiffen, als er es wagte, einen Dreiklang als Schlussakkord zu setzen. Ich war nicht dabei. Sollte die Geschichte nur erfunden sein, steckt doch ein Körnchen Wahrheit dahinter, denn unter "fortschrittlichen" Komponisten werden auch heute noch Dreiklänge, zumindest an prominenter Stelle, vermieden.

c) Der Terminus "offene Form" klingt für kreative Menschen, die gerne Regeln hinterfragen, interessant. "Form" ist aber nicht nur geregelter Ablauf, sondern beim Hören von Musik, ohne dass es uns auffällt, ständig gewärtig. Man kann seinem Gehirn den Drang, Zusammenhänge zwischen Höreindrücken herzustellen, nicht verbieten. Wenn keine kompositorischen Bezüge zwischen einzelnen Figuren und Abschnitten von Musik da sind, dann entsteht eben ein Gewurstel. Und auch der gut gemeinte Appell an die Fantasie der Zuhörer geht ins Leere. Es ist zu bezweifeln, ob Zuhörer in der Lage sind, eigene Zusammenhänge in Musik hineinzudenken, die über Klischeevorstellungen hinausgehen. Zurück bleiben bestenfalls, wie im Fall von John Cages berühmtem 4.33, "amüsierte" Hörer.

Toleranz

Aus den für diesen Artikel ausgewählten Schönberg-Zitaten und aus vielen anderen Äußerungen des Meisters geht hervor, wie konsequent er die eigenen künstlerischen Ideale verfolgte. Er verdient dafür alle Hochachtung.

Es ist aber angesichts des überwältigenden Siegeszugs der Demokratie doch überraschend, dass sich im Verlauf von vielen Jahrzehnten bei seinen Nachfolgern an dieser zwar lauteren, aber intoleranten Haltung kaum etwas geändert hat. Im Bereich der Neuen Musik wurde und wird, offenbar aus der Überzeugung, höhere Einsicht in die Dinge zu haben, das demokratische Nebeneinander verschiedener künstlerischer Standpunkte nur ungern, wenn überhaupt geduldet.

Beispiele: Bei den Festivals moderner Musik in Wien war viele Jahre kaum ein Werk eines tonalen Komponisten zu hören. Partituren, die nicht das charakteristische Notenbild Neuer Musik zeigen, werden bei Kompositionswettbewerben kommentarlos ausgesiebt. Studenten wird nahegelegt, keine tonalen Werke als zeitgenössische Pflichtstücke bei Prüfungen zu verwenden. Mit einem Wort: es hat sich im deutschsprachigen Bereich eine Art "Establishment" der Neuen Musik gebildet, dessen Durchlöcherung erst langsam einsetzt.

Vorboten davon in Wien: Arrivierte tonale Meister der frühen Moderne finden seit Neuestem auch in die Programme des "Klangforum" Eingang. Sogar das Wort "Melodie" wurde dort kürzlich (im positiven Sinn!) zu Werbezwecken benutzt. Das "Theater an der Wien" und die "Neue Oper Wien" bringen gelegentlich tonale Werke lebender Komponisten zur Uraufführung, auch wenn sie sich damit abwertender Kritik aussetzen. Und es gibt immer mehr Diskussionsrunden zum Thema, ob und wie es mit der Musik heute weitergehen könne.

Gemessen aber an der kulturpolitischen Aufgabe, die vor uns liegt, nämlich das entflohene Publikum der Liebhaber klassischer Musik für die Musik von Heute zurück zu gewinnen, sind diese zaghaften Ansätze nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Marketing, das die Konsumenten auf Neue Musik neugierig machen soll, ist oft nicht weniger raffiniert als bei anderen schwer verkäuflichen Produkten, aber es hilft nicht nachhaltig, solange es kaum Komponisten gibt, deren Musik auch dem weniger vorgebildeten Hörer eine Chance lässt. Denn diese Musik müsste freiwillig auf einen Teil möglicher Komplexität verzichten und zumindest partikular die Tonalität miteinbeziehen, um all jenes zum Ausdruck zu bringen, was mit nicht-tonalen Mitteln nur schwer dargestellt werden kann: Ruhe und Schönheit, Frieden und Freude, Liebe und Glück.

Pluralismus

Seit Beginn der Moderne hat sich der Fluss der Musikentwicklung in mehrere Arme geteilt. Wir mussten lernen, Stile nicht mehr als zeitlich aufeinanderfolgende Epochen, sondern auch als Neben- und Ineinander zu begreifen. Aus diesem Geflecht treten im Augenblick folgende stilistische Tendenzen besonders hervor:

1) Aufwertung des Klanglichen: Während instrumentale Verfremdungen wie z.B. das Geklapper auf Flötenkörpern oder das Pedalgeräusch teurer Konzertflügel aber auch die beliebten, aus dem Internet herunterzuladenden Multiphones zu langweilen beginnen, gibt es auf dem Sektor der elektronischen Klänge und der computergesteuerten Musik zweifellos noch viel zu entdecken. - Die Gefahren einer allzu konsequent auf das Klangliche zielenden Musik aber sind, dass sich anstelle eines zwingenden formalen Aufbaus nur Aneinanderreihungen von Klangabschnitten ergeben, dass der Deutungsspielraum des Interpreten vermindert oder ganz ausgeschaltet wird und vor allem: dass sich in dieser Klangkunst das Verständnis für das "Sprachliche" und den "Atem" in der Musik allmählich verliert, was zu Lasten einiger jener Fähigkeiten ginge, die wir seit Jahrhunderten stolz als "Musikalität" bezeichnen.

2) Reduktion der Mittel: ein Gedanke, der angesichts mancher Auswüchse der heutigen Musik sympathisch und vernünftig klingt. Er steht mit der Tonalität in enger Verbindung, der sich heute viele junge Komponisten wieder zuwenden. Faszinierend daran ist auch die Parallelität zur Ökologie, die uns eine bewusste Beschränkung in bezug auf Umwelt und Ressourcen empfiehlt, und die Aussicht, mit einfacherer Musik mehr Hörer zu erreichen. – Es ist aber fraglich, ob man sich mit der Beschränkung nicht auch eine Verharmlosung der von der Neuen Musik in reichem Maße entwickelten Ausdrucksmöglichkeiten einhandelt. Nur in Verbindung mit einem sehr persönlichen geistigen Konzept, wie zum Beispiel bei Arvo Pärt, kann diese "Neue Einfachheit" funktionieren. Im amerikanischen Minimalismus feiert sie sogar Triumphe.

3) Cross over: der Abbau der Berührungsängste zwischen E- und U-Musik. Einige moderne Komponisten wie Strawinsky, Weill, Gershwin oder Bernstein haben sich schon früh mit dem Jazz lebhaft auseinandergesetzt. Erst die Schönberg-Schule "zog einen dicken Trennungsstrich zwischen Moderne und Jazz, aus mangelnder Sachkenntnis oft mit höchst zweifelhaften Argumenten." 3) - Erfreulich, dass es hier auch schöne Gegenbeispiele gibt, wie etwa das schon länger zurück liegende gemeinsame Auftreten von Friedrich Cerha und Frank Zappa in Wien, die auch für die "Klassiker" unter den Musikstudierenden sehr anregende Institutionalisierung von Lehrgängen für Jazz und Pop an den Musikhochschulen und das unverkrampfte Zusammenwachsen der einstigen Gegenpole, das man bei vielen jüngeren Komponisten beobachten kann.

4) Flucht in die Provokation: Wir alle fühlen, dass das Zeitalter des verklärenden Idealismus schon lange und endgültig vorbei ist und setzen uns in der zeitgenössischen Kunst vermehrt mit politischer Realität, psychischer Krankheit, Verbrechen, Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit auseinander. Wenn man den Satz gelten lässt, dass man nach Auschwitz kein Gedicht mehr schreiben könne, gilt das auch genauso für Musik. Wer nach Auschwitz noch Dreiklangsmusik schreibt, der "lügt" also in gewisser Weise, eine solche Musik ist gemessen am Heute zu schön, um wahr zu sein. – Quälende Musik, zur Stilprämisse erhoben, lügt aber genauso: sie verschweigt das Gute. Und indem sie die Welt wieder und wieder schwarz malt, verliert das, was sie anprangern möchte, allmählich seinen Schrecken, wird in gewisser Weise fast "beworben".

Je mehr wir uns der unmittelbaren Gegenwart nähern, desto ungreifbarer werden die stilistischen Positionen. Es scheint so, als würden manche der jüngeren und jüngsten Komponisten zwischen all diesen Tendenzen stehen und auch bei der Wahl zwischen Tonalität und Atonalität je nach Werk und Passage ihre ganz persönlichen Entscheidungen treffen. Wir sind anscheinend in jenem Moment, wo sich ein Endpunkt der Entfaltung des musikalischen Materials abzeichnet, bei einer totalen Vermischung der Stile angelangt, bei einem "postmodernen" Pluralismus, der von vielen Experten noch immer kritisch, wie etwas Unreines, betrachtet wird.

Durch den Pluralismus verringert sich der Gegensatz zwischen tonaler und nicht-tonaler moderner Musik noch weiter. Man bedient sich eben beider Möglichkeiten. Darauf muss wohl auch die Ästhetik der Zukunft reagieren. Die künstlerischen Abenteuer, die im 21. Jahrhundert auf uns zukommen, werden vermutlich nicht mehr im selben Ausmaß wie heute von Innovation und Fortschritt bestimmt sein. Nicht die Weiterentwicklung des musikalischen Materials (z.B. in Richtung Mikrotonalität) wird im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern die besondere klangliche oder interdisziplinäre Gestaltungsidee eines Stücks, die Individualität, das Unikat, die Möglichkeit, aus dem gleichen Material ganz Anderes zu machen und der Brückenschlag zwischen den Künsten bzw. zwischen Musik und realem Leben. Es geht anscheinend darum, das gigantische Terrain, das die Moderne ohne Rücksicht auf die Adressaten der Musik abgesteckt hat, bewohnbar zu machen und es mit Leben zu erfüllen.

Vor allem aber geht es um die Rückgewinnung der künstlerischen Freiheit. Wir sind in der Musik spät dran. In der Bildenden Kunst und in der Literatur hat die totale Befreiung von stilistischen Zwängen längst stattgefunden.

Resümee und Ausblick

Der Pluralismus kann auch unter dem Gesichtspunkt der Marktwirtschaft betrachtet werden, er legitimiert sich dadurch, dass er jedem Musikkonsumenten die Möglichkeit verschafft, Musik seiner Wahl zu hören. Innerhalb dieser Betrachtungsweise, die man als "kommerziell" bedauern oder wegen ihrer Toleranz begrüßen kann, ist die Sehnsucht bei vielen Komponisten groß geworden, wieder mehr Menschen anzusprechen, vor allem jenes relativ große, musikgebildete Publikum, dem Pop allein nicht genügt und das von zeitgenössischen Werken oft enttäuscht wurde.

Dieses Publikum ist verwöhnt durch die Melodik klassischer Musik, die nicht nur emotionell attraktiv ist ("Identifikation"), sondern auch zur Fasslichkeit beiträgt ("Verstehen"). Die Melodik aber wird in der zeitgenössischen Musik sträflich vernachlässigt. Würde sie wieder mehr berücksichtigt, käme die Tonalität stärker zum Tragen, denn nachsingbare Melodien spielen sich fast ausschließlich im tonalen Raum ab.

Klassische Musik befriedigt außerdem durch den Wechsel von Spannung (Dissonanz) und Lösung (Konsonanz). Die "emanzipierte" Moderne hat dem (siehe oben) nichts entgegenzusetzen und scheut sich zudem, offenbar noch immer unter dem Trauma der Weltkriege leidend, die Sehnsucht der Menschen nach Harmonie zu bedienen. Gewisse Ausdrucksbereiche kommen daher in Neuer Musik nur selten vor, etwa: Grazioso, allegretto, scherzando, dolente, soave, maestoso und cantabile. (Wenn von ideologischer Seite her überhaupt geduldet wird, von musikalischem "Ausdruck" zu sprechen.) Ich sehe daher einen der wichtigsten Aspekte zukünftiger Musik darin, dass sie die Bevorzugung des Dissonanten aufgibt und den ganzen Bogen der Intervalle ausschöpft. Was auf eine Mitsprache der Tonalität hinausläuft.

Das bei nicht-tonaler Musik oft anzutreffende, die Apperzeption überfordernde Übereinander von komplexen Strukturen kann manchmal zu starken visionären Hörerlebnissen führen, hält aber auf Dauer den Vergleich mit tonalen klassischen Werken, die an die Aufnahmefähigkeit des Hörers gut angepasst sind, nicht aus. Wir haben uns in kreativer Weise schon ab dem 19. Jahrhundert von den klassischen Formen immer mehr gelöst. Form überhaupt in Frage zu stellen heißt aber, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Es geht nicht um das Ersetzen von Form durch Struktur, sondern eher um die Verbindung der beiden bzw. um die Entwicklung einer werkindividuellen Formensprache, wofür es unzählige Möglichkeiten gibt.

Unsere Zeit verfügt über Sänger und Instrumentalisten, die ein nie dagewesenes Maß an Ausdruckskraft und Virtuosität erreicht haben. Nicht wenige zeitgenössische Komponisten belästigen aber die Ausführenden, die der Musik ihr Herz und oft auch ihre Gesundheit (!) schenken, mit unnötigen Schwierigkeiten. Auch von Seite der Interpreten her ist also die Flucht in die klassische oder Alte Musik verständlich, bei denen tonale, innerlich vorauszuhörende Gebilde zum seelenvollen Gestalten einladen.

Das oben beschriebene Fortschrittsmodell ist aus den Köpfen unserer Kulturpolitiker, denen Jahrzehnte eingehämmert wurde, doch endlich "zeitgemäß" zu agieren, wahrscheinlich noch lange nicht zu vertreiben. Für die Musikkonsumenten hatte es nie wirkliche Bedeutung. Diese interessiert auf Dauer nicht, ob eine Musik neu, noch neuer oder am allerneuesten ist, sondern nur, ob sie "überzeugend" ist, etwas "sagt" und nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus dem Herzen kommt.

Unter der Voraussetzung, dass sich der Stilpluralismus durchsetzt, haben Komponisten in Zukunft jede erdenkliche Freiheit, sich in individueller Weise zu verwirklichen. Sie können die Welt so ideal darstellen, wie wir sie alle gerne hätten, oder so schlecht, wie sie gar nicht ist, können nach Lust und Laune ästhetische Konstrukte, "Klangwolken" oder gefühlsbetonte "Ohrwürmer" anbieten. Ihre schönste Aufgabe wird aber die sein, die es immer schon war: ihre Zuhörer mit Musik im Innersten zu treffen, ihnen Energie zu senden (nicht zu rauben), wenigstens für kurze Augenblicke zu vermitteln, dass das Leben lebenswert ist.

Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, wird die Tonalität innerhalb dieser zukünftigen Musik eine tragende Rolle spielen.


1 Arnold Schönberg: Schöpferische Konfessionen, Arche, Zürich 1964

2 Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, Schott, Mainz 1940

3 Matthias Petzold: Verweigerte Begegnung, www.petzold-jazz.de 2008

4 Robert Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, Spektrum, Heidelberg 2001

5 Friedrich Cerha, Schriften: ein Netzwerk, Verlag Lafite, Wien 2001



Wien, im Dezember 2011

 

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